Strandrecht

Eine Geschichte aus der Nachsaison von Teo von Torn
in: „Mährisches Tagblatt” vom 12.09.1903,
in: „Rostocker Anzeiger” vom 13.09.1903,
in: „Badische Presse” vom 17. und 18.09.1903,
in: „Rigasche Rundschau” vom 25.10.1903,
in: „Greifswalder Tageblatt” vom 11.09.1904


Von allen heftigen Gemüthsbewegungen ist die Ueberraschung diejenige, die den Menschen am wenigsten verschönt. Ein Gesicht kann noch so hübsch und intelligent sein — die in Falten gezogene Stirn, weitaufgerissene Augen und der offene Mund verleihen ihm einen Ausdruck, der mit unvortheilhaft sehr gelinde bezeichnet ist.

Man konnte es daher Fräulein Dr. juris Sigrid Efferson nicht verdenken, daß sie bei der plötzlichen und unverhofften Begegnung mit Olaf Peter Munz in ein unwissenschaftlich übermüthiges Mädchenlachen ausbrach.

Sie lachte umso lauter(1) und anhaltender, je weniger es Olaf Peter Munz gelingen wollte, sein Gesicht wieder in Ordnung zu bringen, Das hatte besondere Schwierigkeiten deshalb, weil er nicht nur die Ueberraschung, sondern augenscheinlich auch den Verdacht niederzuringen hatte, daß er um die helle Mittagstunde, am Strande eines kleinen, nahezu ausgestorbenen Ostseebades nachtwandelte.

Auf diese Annahme deuteten seine verzweifelten Versuche, sich zur Wirklichkeit zu wecken. Er rieb seine Stirn, kraute die darauf vorgelagerte schmalblonde Landzunge seines Haupthaares und kniff sich verstohlen an einer Stelle, an der man sich in Damengesellschaft selbst unter Beobachtung von Vorsichtsmaßregeln nicht zu kneifen pflegt. All das aber ließ keinen Zweifel: er war wach, und der vergnügte Kobold da vor ihm war Sigrid Efferson in eigener Person.

Nachdem er endlich diese Erkenntniß gewonnen, schien er sie innerlich noch verarbeiten zu müssen, ehe er sich irgendwie äußerte. Der Mund klappte zu, und die weitaufgeknöpften Augen reducirten sich auf den normalen Schlitz. Dabei entfiel ihm der Kneifer. er klaubte ihn schwerfällig auf. Alsdann ließ er sich wortlos auf dem weißen Sande nieder, zog den Kniffhut in die Stirn und legte die Arme um die hochgezogenen Kniee.

Die junge Dame setzte sich neben ihn — ungenirt, mit einer weichen gleitenden Bewegung, und so, daß sie sein Profil sehen konnte. Ein ausdrucksvolles(2) Männergesicht, etwas verträumt und befangen und mehr trotzig als energisch. Sie hatte das Köpfchen leicht auf die Schulter geneigt und musterte ihn. Die hellen graublauen Augen blickten spöttisch, und ebenso klang das kurze glucksende Lachen, in dem die stürmische Heiterkeit von vorhin nach und nach sich erschöpfte. Dennoch war etwas Gespanntes, leidenschaftlich Erregtes in ihrer Haltung — und sie wurde sich schließlich dessen auch bewußt.

Sigrid Efferson erröthete und wandte sich ab.

Mit einer fast heftigen Bewegung griff sie nach dem, an einer langen, goldenen Kette hängenden Schildkrot(3)-Lorgnon und führte es an die Augen. Sie folgte dem Blicke Olaf Peters in die Weite — — über die in ihren lichtesten Farbentönen(4) prangende See, nach dem großen Postdampfer hinüber, der da draußen — grau und massig wie ein Riese, dem der Athem ausgegangen — mit einem Maschinendefect vor Anker lag. Immer noch brachten Barkassen und Segelboote die Passagiere, die den unfreiwilligen Aufenthalt an Land zu absolviren wünschten, zu dem schwanken, weit in die See hineingebauten Landungssteg. Der große Schwarm verlief sich jedoch weitab seitlich nach dem Curhause hinauf.

Sie blieben allein.

Einige Secunden genügten, daß Sigrid Efferson sich von der peinvollen Erregung befreite. Sie war stark und klug und hatte sich in der Gewalt. Wieder zuckten ihre Schultern in einm leisen Lachen, als sie das Lorgnon sinken ließ.

„Ein seltsamer Zufall, Peter —”

„Sehr seltsam.”

„Es scheint, daß Du kein Glück hast mit Deinem Schwur, mich nie wiederzusehen —”

„Es scheint so.”

„Und das ärgert Dich —”

„Ich mache nicht gern eine komische Figur.”

Sie blickte lächelnd vor sich hin. Dann wurde sie plötzlich ernst und stieß kurz und hart hervor:

„Narr —!”

Olaf Peter Munz schob den Hut aus den Augen und drückte sich mit einer geübten Bewegung dreier Finger den Kneifer fester auf die Nase. Diese Bewegung war ihm eigenthümlich. Dann wandte er ihr langsam das Gesicht zu — mit einem Blick, der abweisend und überlegen sein sollte, aber doch recht unsicher war. Außerdem hielt er ihn nicht lange aus. Die graublauen Augen hatten etwas Blendendes, wenn sie groß und offen blickten. Das war schon immer so gewesen, — auch als Sigrid Efferson noch ein halblanges Kleid getragen und ihrem Jugendfreunde, dem Studiosus Munz, erklärt hatte, daß das Weib den Aufgaben des Mannes vollauf gewachsen sei, und daß es ihr ein Leichtes sein werde, ihm das zu beweisen. Er hatte zunächst gelacht damals, dann aber hatte ihn der helle, leuchtende, weltsichere Blick irritirt — und dieser Blick war heute noch derselbe, obwohl sie ihre Augen inzwischen kurzsichtig studirt hatte.

Olaf Peter Munz sah in die Weite — — aber auch die Reflexe, die der Spätsommertag in flimmerndem Spiel über die See streute, blendeten ihn wie sonnige Mädchenaugen. Er stützte das Kinn auf beide Fäuste und schaute vor sich hin(5) auf den Strand, an dem die durchsichtigen Wasser emporleckten und von Zeit zu Zeit etwas auf den Sand schoben: feucht blinkende Quallen, wirre Büschel von Seetang mit kleinen todten sperroffenen Muscheln dazwischen. Auch ein Bund welker Rosen, deren dunkles Seidenband sich im Wasser gelockert hatte, wiegte sich auf den Wogenkämmen heran. Das behielt er im Auge.

„Weshalb also wolltest Du mich nicht wiedersehen, Peter —?”

„Das weißt Du.”

Sie schüttelte den Kopf.

„In wenigen Stunden wird der Dampfer die blaue Flagge hissen, die mich und die Andern an Bord ruft. Dann wirst Du Deinen Willen haben, und wirst mich nicht mehr sehen. In dieser knappen Zeit mußt Du mir eine Gefälligkeit erweisen, Peter. Du mußt! Sieh mal — ich gehe auf Jahre aus der Heimat. Da nehme ich in der Erinnerung Alles mit, was mir lieb und theuer ist. Das epheuumsponnene Grab meiner Mutter, die Fjordbucht und den Park von Ingenäs, wo wir gespielt haben mit einander. Das steht mir Alles so klar vor Augen — und so rein, daß, ich mir das Herz daran wärmen werde im kalten Rußland. Auch an dem Olaf Peter Munz von dereinst, der ein lieber Kerl war. Wie Du Dich aber seit einem Jahre gegeben hast, bist Du ein Mißton in jenen Bildern — und das wirst Du mir ändern jetzt. Du wirst mir sagen, weshalb Du fortgegangen bist und mir jenen dummen Brief geschrieben hast, der Dich so niedrig stellt, so klein und erbärmlich macht, daß ich eine Wuth habe auf Dich, Peter — eine unsinnige Wuth! Du warst dagegen, daß ich studirte, und da ich es doch that, wurdest Du ein anderer. Das verstehe ich und lasse es auch gelten — umsomehr, als die Mutter Dir gewisse Rechte über mich eingeräumt hat. Vormundsrechte sozusagen, da Du der Aeltere bist. Aber war es ein Grund, davonzugehen, weil ich promovirte, während Du durchfielst? War das wirklich Dein Grund —?”

Er hatte sich erhoben, um die herangespülten Rosen aufzufischen. An dem Seidenbande hing noch eine goldene Schnalle, wie sie Damen benützen, um Blumen am Gürtel zu befestigen. Er betrachtete sie eingehend; dann kehrte er zurück und ließ sich an derselben Stelle nieder. Sigrid folgte jeder seiner Bewegungen mit zehrender Ungeduld.

„So sprich —!” herrschte sie ihn an.

Olaf Peter Munz rückte seinen Kneifer zurecht und erwiderte, in die Betrachtung seines Fundes vertieft:

„Ich wäre gegangen, auch wenn es umgekehrt gewesen wäre. Aber es ist müßig, darüber zu sprechen. Du hast Deinen Weg gewählt, laß mir den meinen — wenn er Dir auch verächtlich oder erbärmlich erscheint.”

„Aber ich will gut von Dir denken, Peter —”

Das klang so flehend, so von innerer Bewegung durchzittert, daß er erstaunt den Kopf hob — aber nur wie einer, der etwas gehört und nicht recht verstanden. Er sah sie nicht an dabei.

„Das wirst Du nie,” sagte er trocken, aber ohne jede Schärfe. „Eben weil Du mir überlegen bist. Du gehörst zu den Frauen, die nur gut denken von einem Manne, zu dem sie aufsehen — nicht von einem, den sie nach Belieben blamiren können.”

„Peter! Ich — ich hätte — —!!?”

Das war keine Frage, sondern ein Aufschrei — wie in athemlosen Erschrecken angesichts einer jähen furchtbaren Erkenntniß. Sie hatte die krampfhaft gefalteten Hände gegen den Mund gepreßt. Der starre Blick war nach innen gerichtet in angstvollem Suchen — und sie fand. Sie sah es nun mit vernichtender Deutlichkeit, daß nicht er, sondern sie selbst erbärmlich und brutal gehandelt hatte! Von jenem Augenblicke, da sie ihn zu überflügeln gesucht und überflügelt(6). Was sie angestachelt zu den ungezählten, über ihren Büchern durchwachten Nächten war nicht der Wissensdurst, den sie geheuchelt, sondern der einzige Wunsch und Wille, ihn zu überholen. Mit wievielen raffinirten Kniffen hatte sie es einzurichten gewußt, daß sie zusammen ins Examen stiegen — in der geheimen, lauernden Hoffnung, daß es so kommen würde, wie es gekommen war.

Er sah und fühlte nichts von alledem, was in ihr vorging. Deshalb sagte er flüchtig, wie man etwas Beiläufiges abthut:

„Ich wiederhole, daß es müßig ist, davon zu reden. Sage mir lieber, ob ich berechtigt bin, diese Spange hier zu behalten. Du hast Dich mit dem Jus litoris eingehend beschäftigt, wenn ich nicht irre. Ist das Fundsache oder Strandgut?”

Sigrid Efferson hatte sich gesammelt. Auf ihrem durchgeistigten Gesicht prägte sich ein Entschluß aus — einer, der ihre Wangen röthete und ihren Blick wie in Verklärung aufleuchten machte.

„Alles, was die See hergibt, ist Strandgut und unterliegt den Vorschriften der Strandungsordnung.”

„Also —”

„Du darfst es nicht behalten. Wenn die Besitzerin drüben auf dem Dampfer nicht zu ermitteln ist, so mußt Du den Gegenstand der nächsten Polizeibehörde übergeben, die das Aufgebotsverfahren erläßt. Verläuft dasselbe resultatlos, so verfällt das Gut dem Staate, da es nicht see-, sondern strandtriftig ist. Nur was herrenlos auf offener See treibt, darauf hast Du ein Recht.”

„Das ist interessant.”

„Und wichtig, Peter, — wichtig für uns beide. Nütze Dein Strandrecht,” fügte sie mit bebender Stimme hinzu. „Ich trieb herrenlos und havarirt auf offener See — in doppeltem Sinne. Eitle Thorheit hat mich hinausgetrieben, und oft schon habe ich geschaudert vor dem Äbgründigen, das sich mir da draußen offenbarte. Du hast mich gefunden — zu guter Stunde. Nütze Dein Strandrecht — — — ich hab Dich lieb” . . . . .

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Nachdem Olaf Peter Munz wieder zur Vernunft gekommen war — man sollte nämlich nicht glauben, wie glückselige Menschen sich verrückt anstellen können! — besorgte er unverzüglich das, auch für seetriftige Funde vorgeschriebene Aufgebotsverfahren — — — und zwar bei dem Standesbeamten für Gut und Schloß Ingenäs.

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Fußnoten:

(1) In den Fassungen des „Rostocker Anzeigers”, der „Badischen Presse” und der „Rigaschen Rundschau” heißt es: um so herzlicher und. (zurück)
(2) In den Fassungen des „Rostocker Anzeigers”, der „Badischen Presse” und des „Greifswalder Tageblattes” heißt es: ausdrucksvolles blondes (zurück)
(3) In den Fassungen des „Rostocker Anzeigers” und des „Greifswalder Tageblattes” heißt es: Schildkröt (zurück)
(4) In den Fassungen des „Rostocker Anzeigers”, der „Badischen Presse” der „Rigaschen Rundschau” und des „Greifswalder Tageblattes” heißt es: Farbtönen (zurück)
(5) In der Fassung der „Rigaschen Rundschau” heißt es: vor sich hin und auf den (zurück)
(6) In der Fassung der „Rigaschen Rundschau” heißt es: überflügelt hatte. (zurück)

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